Anke DOBERAUER 

M = "Malerei"

Anke Doberauer hat die Themen traditioneller Akademiemalerei – die Landschaft, das Porträt, das Figurenbild, den Akt – als Möglichkeiten aktueller Malerei wiederentdeckt. Sie weiss natürlich, dass dieses Territorium inzwischen längst von den Bilderfabriken der Tourismuswerbung, des Fernsehens und der Mode in Beschlag genommen ist. Und dass eine Malerei von heute nur eine Malerei sein kann, die sich dem Wettbewerb dieser Bildsphären stellt. Daher die Bühnenbeleuchtung, das Glamoureuse vieler ihrer Bilder und ab und zu die Bonbonfarben.

Als ob dies nicht genug der Irritation wäre, hat sie dabei ein besonderes Interesse am schönen Mann als erotischem Objekt an den Tag gelegt. Und dann dreht sie den Spiess wieder um und malt aufblasbare Venuspuppen aus Gummi vor dem Hintergrund einer Bergkuppe oder einem kleinen Wasserfall. Diese Bilder nerven. Woran liegt das nur? Liegt es an dem unanständigen Sujet? - Sie nerven, weil man sich selbst in Anbetracht dieser Bilder dabei ertappt, nach Banausenart das krude Sujet anzustarren. Also zum Beispiel die aufblasbare Sexpuppe, ihre gespreizten Schenkel, das bonbonfarbene Etwas in der Mitte. Und mithin zwangsläufig in die Rolle schlüpft, die einem im Hinblick auf ein Sujet dieser Art zugewachsen ist. Kurz, man tappt in die Falle des Voyeurismus. Das nervt. Und es nervt gleich doppelt, weil man in dieser Rolle eine herbe Enttäuschung erlebt, denn diese Bilder sind im Gegensatz zu so vielen anderen, die diese Malerin geschaffen hat, eher drollig als erotisch. Was die Sache noch schlimmer macht: Darf man erwachsene Museumsbesucher so an der Nase herumführen?

Eros ist das A und das O der Kunst. Das war schon immer so. Damit muss man sich abfinden. Auch damit, dass sich unsere Träume, die Reklame, das Internet nicht immer an das Decorum gebunden fühlen, das einen Tizian, einen Rembrandt, einen Boucher, ja selbst einen Balthus vor dem Abgleiten in die Pornografie bewahrte. Marcel Duchamp kam schon vor dem Ersten Weltkrieg zur Überzeugung, dass die Malerei für die Behandlung solcher Themen nicht mehr das richtige Medium sei. Ihn faszinierte das Vorhaben, sämtliche Möglichkeiten erotischer Verwicklung, von denen die Literatur- und die Kunstgeschichte berichten (ganz zu schweigen von der Psychoanalyse), auf eine quasi-wissenschaftliche Formel zurückzuführen. Bio-technische Apparaturen (eine Schokoladenreibe, ein Schlitten, ein Kleidergestell und darüber ein ausgebreiteter Brautschleier) sollten diese Möglichkeiten in parodierender Weise vorführen. Er hat die Versuchsanordnung anschliessend in der Sprache der technischen Zeichnung grafisch festgehalten und auf die zwei Gläser eines Schiebefensters übertragen ("La mariée mise à nu par ses célibataires, même", 1915).

Die Duchamp-Variationen von Anke Doberauer knüpfen aber anderswo an: bei der Peepshow, mit der Duchamp seinen frühen Spekulationen über die Liebe und die Vereinigung der Geschlechter gegen Ende seiner Karriere eine krude und äusserst pessimistische Wendung gab. Duchamps Installation "Étant donnés: 1° la chute d'eau 2° le gaz d'eclairage" (1946-1966) hat nicht nur einen ebenso verschachtelten wie mysteriösen Titel. Sie existiert im Abseits. Sie ist schwer zugänglich und selbst Besuchern, die nur ihretwillen nach Philadelphia reisen, kann es passieren, dass sie sie vor Ort, im Philadelphia Museum of Art, übersehen.

Das, was Duchamp im Verborgenen seiner Szenerie minutiös rekonstruierte wird nun von Anke Doberauer ans Tageslicht gezerrt und in einer Spielzeugversion, die die Sache nicht unbedingt familientauglich macht, abgemalt. Im einen Fall wird der Schauplatz des Verbrechens (einer Vergewaltigung?) als Bühnenstaffage nachgestellt, bis hin zu dem kleinen Wasserfall im Hintergrund. Im anderen Fall wird das Ganze als Ölbild gemalt; dies übrigens gleich mehrmals - in Serie. Aus dem dreidimensionalen, in Papier maché nachgebauten Mannequin bei Duchamp ist eine zweidimensionale, rosarot gemalte Gummipuppe geworden. Aus dem elektrisch betätigten und beleuchteten Wasserfall, der einem Musikdosentheater aus dem 19. Jahrhundert entnommen zu sein scheint, ist das pastos gemalte Bild des Wasserfalls von Chexbres am Genfersee geworden.

Hier wie dort geht es um das Paradigma der Illusion. Nun ist Illusion das A und O der traditionellen Malerei. In der Meisterschaft des Als-Ob zeigt sich der grosse Maler. Nun läuft das Leben ohnehin über weite Strecken im Kopf ab, also seinerseits in der Form des Als-Ob. Das gilt auch für den Eros. Auf diesem Gebiet sind den Möglichkeiten, die Natur durch Imitation ausser Kraft zu setzen, allerdings gewisse Grenzen gesetzt. Jenseits dieser Grenzen folgt die Enttäuschung und der dégout, vielleicht sogar der Skandal. Duchamps mysteriöses Kabinett markiert genau diese Grenze. Anke Doberauers rosarote Puppe macht sie zu einem öffentlichen Kasus.
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Beim Betreten des Marseiller Ateliers der Künstlerin fällt der Blick direkt auf eines der Bilder aus dieser Serie. Darunter ein Spiegel. Im Spiegel erkennt man den Reflex zierlicher schlängelnder weisser Gipsvoluten. Sie gehören zu einem neobarocken Cheminée im Nebenzimmer. Die rosa Puppe als Requisit innerhalb einer vielleicht zufällig entstandenen Peepshow? – Im Nebenzimmer hängt eine ganze Reihe von Variationen des Themas, eine neben der andern. Wie bei jeder Serie ist man unschlüssig, ob die Wiederholung das Gewicht der einzelnen Aussage de facto unterstreicht, oder ob dieser Transfer ins Ornamentale nicht vielmehr den gegenteiligen Effekt der semantischen Neutralisierung zur Folge hat. Zum biedermeierlichen Ornamentfries aufgereiht verwandeln sich die knieaufwärts dem Gynäkologenblick dargebotenen Schenkel der Puppe in das abstrakte Ornament des Buchstabens "M".

"M", wie "Marcel", aber vor allem auch "M", wie "Malerei"
Stanislaus von Moos, Nov. 2013

 
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