Anke DOBERAUER 

Martin Warnke
Epochenfreies Sehen

1. Sehhilfen aus Wölfflin
Schon im Vorwort seiner Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von 1915 hat Heinrich Wölfflin
darüber aufgeklärt, dass die Kategorien, die er so folgenreich für Renaissance und Barock
entwickelt hatte und die der Renaissance das Lineare und dem Barock das Malerische
zuwiesen, in der Moderne beliebig verfügbar geworden sind: „In einer Weise, die einzig ist
in der bisherigen Kunstgeschichte, scheint das Widersprechendste sich miteinander vertragen zu können. Die plastisch-lineare Kunst hat ebenso Geltung wie jene malerische, die auf den bloßen Augeneindruck hinarbeitet.“ Da also in der Moderne all seine ursprünglich zeitbedingten Kategorien frei geworden sind, sind auch wir frei, Wölfflins historische Zuordnung zu ignorieren und für die Gegenwart zu reaktivieren. Wir ziehen also Wölfflins Sehkunst oder Sehenergie für die Besichtigung eines individuellen Oeuvres der Gegenwart heran, sozusagen als aktualisierte Anwendung seiner Schulung. Demnach wäre es möglich, mit Wölfflins beschreibungs- und stilistischer Bestimmungskunst das künstlerische Werk einer zeitgenössischen Künstlerin, das Werk von Anke Doberauer, die als Professorin an der Münchener Kunstakademie tätig ist, zu charakterisieren, wenn auch nicht schon zu erklären.
Anke Doberauer hat bei dem bekannten Maler und Bühnenbildner Ben Willikens in dessen Braunschweiger Zeit gelernt und von dort die gegenständliche und oft großformatige
Anlage der eigenen Bilder aufgegriffen. Man kann sie eine Porträtmalerin nennen, die mit
Vorliebe moderne, oft mondäne Männer und Frauen aus dem Leben unmittelbar übernimmt
oder fotografiert und schließlich farbenprächtig auf große Leinwände bringt. Auch andere
Objekte und Situationen aus dem Alltagsleben können von ihr in eine farbintensive, hyperreale Daseinsform entrückt, doch zugleich dem Betrachter als exzentrische Erscheinungen heutigen Lebens und Gebarens unverhüllt und eindrücklich vorgeführt werden. Aber Anke Doberauer hat auch Bildnisse aus dem akademischen Milieu geschaffen, so die Reihe der Rektoren der Universität Jena, die dort soeben wieder als acht Magnifizenzen ausgestellt sind. Kürzlich hat das neue Musicaltheater auf dem Elbufer gegenüber den Landungsbrücken in Hamburg ein großes Leinwandbild mit Rückenfiguren vor dem geradezu kalifornischen Sunset (2006) im Foyer aufgehängt. Männer und Frauen in bunten Kleidern stehen mit dem Rücken zum Betrachter über einen Metallzaun gebeugt und versenken sich in die leuchtenden Farben, welche die untergehende Sonne noch hinterlässt. (Anm. d. Künstlerin: Sunset, 2006, 195 x 859 cm, im Stage Theater an der Elbe).
Wenn man für die Malerei Doberauers Wölfflins Charakterisierungskunst nutzt, kann man durchaus Sehhilfen bekommen: „Da standen unter offenem Himmel nackte, lebensgroße Figuren, ruhig anspruchslos, von wahrhaft antiker Schönheit der Bewegung und außerordentlich eindrucksvoll durch die Kraft der plastischen Erscheinung: ein paar schlanke Stämmchen gaben die Andeutung eines Hains; dazwischen hindurch sah man auf die Landschaft […]. Wo die Aufmerksamkeit durch den Gegenstand in Anspruch genommen wird, da gewöhnt man sich, als Wesen und Inhalt des Bildes etwas zu nehmen, was an sich ganz außerhalb der Kunst liegt.“ Wölfflin sagte das 1892 von Hans von Marées. In Grundzügen ist es vielleicht übertragbar.

2. Zeichnend denken
Einen neuen Eindruck gewinnt man, wenn man den großen Bestand an Zeichnungen Anke
Doberauers ins Auge fasst. In der Beilage zum Berliner Tageblatt vom 10. Oktober 1910,
das dem 100. Jubiläum der Berliner Universität gewidmet war, hat Wölfflin einen kurzen
Text Über das Zeichnen verfasst, in dem er sich für einen Zeichenunterricht auch an den
Universitäten einsetzt. Er schreibt, es liege „ein Segen auf dem Zeichnen überhaupt, weil
nirgends so wie hier sofort und überzeugend deutlich wird, wie weit man Wesentliches und
Unwesentliches zu unterscheiden imstande ist. Unklarheiten der Disposition, Verschiebungen der Proportion der Teile – all dergleichen Fehler, über die man in einem Aufsatz hinweg liest, sie rächen sich als Denkfehler in einer Zeichnung unmittelbar.“ Wölfflin sieht also das Zeichnen als eine operative Weltaneignung an, die eine menschliche Fertigkeit darstellt, welche richtig oder falsch getätigt werden kann. Anke Doberauer hat ganze Zeichnungsblöcke mit Hunderten von Zeichnungen gefüllt, die allesamt vor originalen Gemälden aus Museen in Berlin, München, Florenz, Wien und anderen europäischen Städten entstanden sind. Sie dokumentieren den Versuch, aus einem repräsentativen Bildbestand unterschiedlicher Epochen und Schulen nicht Muster oder Vorbilder, sondern sympathetische Eindrucke festzuhalten, die zugleich die eigene Wahrnehmung für die physiognomische Vielfalt schärfen. Diese Aneignung kunstgeschichtlicher Materialien hat durchaus eine Tradition: Michelangelo hat früh Kompositionen von Giotto, Rubens unablässig antike Skulpturen und neuzeitliche Bilder, aber auch Zeichnungen kopiert, Rembrandt hat Leonardos Abendmahl zeichnend studiert und zugleich frei bearbeitet; in den Akademien gehörte das Kopieren von antiken und neuzeitlichen Vorbildern immer zum Aus- und Fortbildungsprogramm von Bildhauern und Malern. Solche Bildungsbemühungen sollten die Kenntnis der künstlerischen Formenvielfalt, der geschichtlichen Möglichkeiten befördern und durchaus auch der eigenen künstlerischen Selbständigkeit zugute kommen. Richtigkeit und Vollständigkeit jedenfalls war bei solchen Aneignungen nicht immer die entscheidende Absicht. Doberauers Hauptinteresse gilt den Bildnissen, gelegentlich auch Kompositionen oder stofflichen Details. Angesichts der Masse skizzierter Vorlagen, könnte man als problematisch ansehen, dass Wölfflin sogleich diesen Nachbildungen und der Zeichnung allgemein mit dem Kriterium eines möglichen „Denkfehlers“ begegnet. Vielleicht ist es richtig, diese Bestimmung so zu verstehen, dass eine Zeichnung, sei sie als Kopie oder sei sie frei geschaffen, eine nachvollziehbare oder authentische Aneignung bezeugen sollte. Jedenfalls sind nach dem Kriterium der Richtigkeit, Vollständigkeit oder Treue gegenüber dem Objekt die Nachzeichnungen Doberauers „falsch“: Sie legen keinen Wert darauf, jedes Ohrläppchen, jeden Mundwinkel, jeden Haarschopf oder jede psychologische Befindlichkeit nachvollziehbar wiederzugeben; schon gar nicht wäre in der Moderne, etwa für den unablässig kopierenden Picasso, ein solches Kriterium angemessen. Wohl aber geben die Nachzeichnungen Doberauers aus Bildnissen mit Vorliebe die Augen, oft mit verstärktem Druck des Stiftes, sodass sich in der Eile der zeichnerischen Aufnahme doch ein einprägsamer persönlicher Eindruck ergibt; gelegentlich sind auch kompositorische Strukturen skizziert, aber auch Details, etwa beschuhte Fuße, erfasst. Nirgends nähren ihre Zeichnungen das Bedürfnis, Konturen abzutasten, sie streben nicht an, über alle Umstände eines Subjektes oder eines Bildes zu berichten, sondern sie arbeiten einen wichtigen Aspekt, oft einen momentanen Eindruck, eine aufflackernde Sympathie heraus, die im Gedächtnis haften bleibt. Die eindringliche Aufmerksamkeit, die den zahlreichen Bildern in einem Museum geschenkt wird, schlägt auch für den fremden Betrachter Brücken zu einer interessierten Wahrnehmung der oft ermüdenden Masse musealer Angebote.
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Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 1915, S. VII.
2 Wölfflin, Heinrich: Hans von Marées, in: Zeitschrift für bildende Kunst 27 (1892), S. 73 –79, hier S. 73 – 74.
3 Wölfflin, Heinrich: Über das Zeichnen, in: ders.: Kleine Schriften (1886– 1933), hg. von Joseph Gantner, Basel 1946, S. 164 – 165, hier S. 165.

 

Martin Warnke im Gespräch mit Anke Doberauer

MW: Heinrich Wölfflin war der Meinung, dass jede Zeit ihr eigenes Auge hat und es für
die jeweilige Epoche entwicklungsleitend ist. Zur damaligen Zeit wurden auch andere Ansätze entwickelt, welche die künstlerischen Stile mit der Geistesgeschichte, der Philosophie, der Theologie oder auch der Sozialgeschichte zusammenbrachten. Wölfflin hat in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen alle ignoriert. Er hatte erste Gedanken dazu 1911 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen, auf deren kurzes Resümee hin Erwin Panofsky seine etwas voreilige, wenn auch berühmte Kritik an Wölfflins Grundbegriffen verfasst hat. Das Buch erschien 1915. Mehrere lange Jahre hat er damit gerungen und es sozusagen schließlich im ersten Weltkrieg veröffentlicht. Damals haben die meisten deutschen Kunsthistoriker nationalistisch, kaiser- und vaterlandstreu, den Krieg begrüßt. Die Kunst wurde als Kriegswaffe funktionalisiert. In dieser Atmosphäre brachte Wölfflin ein Buch heraus, in dem er voraussetzt, das Sehen habe seine eigene Geschichte, das Auge sei ein eigensinniges Organ. Das deute ich als eine politisch motivierte Askese.

AD: Sie schrieben vor einigen Jahren in einem Aufsatz, dass Wölfflin das Konzept und das Kontextuelle wohl bewusst ausblendete.

MW: Ja, um es zu befreien vom Zugriff der herrschenden Kriegspropaganda. Diese Askese
Wölfflins negiert das Schlachtengetöse um ihn herum und entwickelt die Theorie einer autonomen Augentätigkeit. Es war eine Befreiung, eine Befreiung für Menschen, die ein bisschen Abstand von dem nationalistischen Geschrei suchten. So habe ich die Grundbegriffe, auch mithilfe von Wölfflins Briefen, als eine zeithistorische Reaktion gedeutet. Der an Wölfflin adressierte Vorwurf lautete immer, er reduziere Kunstgeschichte aufs Auge. Das würde er wahrscheinlich nicht geleugnet haben, denn für ihn hatte das Auge eine eigene Relevanz. Wölfflin wird übrigens in Amerika jetzt wieder auf Kongressen diskutiert. Dort wurde er noch lange in den Schulen gelehrt und gelesen.

AD: Woran mag das liegen?

MW:Weil seine Argumentation so einleuchtend ist. Sie können mit seiner Hilfe lernen, was
an Gemälden und Zeichnungen die „Renaissance“ und was den „Barock“ ausmacht. Nach
den „zeichnerisch“ gestaltenden Raffael oder Dürer im 16. Jahrhundert kommen die „malerisch“ zeichnenden und malenden Rubens, Rembrandt und Velazquez des Barock. Das eindringlich beschriebene Zeichnerische und Malerische, oder Geschlossene und Offene der
Formen entfaltet in einer einfachen, anschaulichen Sprache eine suggestive Plausibilität.

AD: Dann ist es ja kein Wunder, dass er sich auf Velazquez beruft. Denn den haben seine Kollegen seinerzeit angefeindet, weil er malte, was er sah.

MW: Carl Justis Monografie über Diego Velazquez ist historisch angelegt. Er sieht Velazquez
in seiner Zeit und in seiner jeweiligen Umgebung. Wölfflin wollte die Kunst eher aus
der historischen Zeit befreien, sie für das Auge aktualisieren. Das geht nicht, wenn ich Velazquez historistisch in seine Zeit einbette. Wenn ich als Kunsthistoriker, so wird Wölfflin
gedacht haben, wirken will, dann muss ich das Auge erziehen, das Sehen lehren.

AD: Das ist interessant, denn mit meinen Studenten gehe ich ähnlich vor. Wenn wir gemeinsam ihre Arbeiten ansehen, bespreche ich eigentlich nur das Formale. Denn die Inhalte sind, bevor sie ihre Form gefunden haben, intime Dinge, sie gehören noch nicht in das Feld der Kunst. Was ein Student auszudrücken beabsichtigt, möchte ich ihm vorher nicht zerreden. Sobald die Form dann stimmt, stimmt auch der Inhalt. Aber solange es formal nicht richtig ist, leidet der Inhalt. Dann kippt es auch oft um ins Peinliche oder es ist einfach nicht gut. Meine Qualifikation als Professorin ist die einer Malerin, weshalb ich es ablehne, etwas Anderes zu korrigieren oder zu kritisieren als rein formale, piktorale Aspekte. Über Inhalte kann man reden, sobald die Arbeit formal in Ordnung ist, aber dann ist meine Arbeit auch beendet.

MW: (APPLAUS!) Diese formalen Aspekte haben Sie vielleicht auch in ihrer Serie von
Zeichnungen nach Werken in Museen geleitet? Wann sind diese Zeichnungen in kleinen Notizblöcken entstanden?

AD: Die vorliegende Serie war als solche geplant und entstand von 2000 bis 2009. Aber
ich hatte zuvor über mehrere Jahrzehnte hinweg winzige, teils nur briefmarkengroße Zeichnungen in Museen gemacht, als Notizen, damit ich mir die Bilder merke. Damals gab es keine Handys mit Fotofunktion oder kleine Fotoapparate, mit denen man heute schnell ein Bild knipsen kann, und es war verboten, im Museum zu fotografieren. Diese Zeichnungen haben zudem den Vorteil, dass sie knapp zusammenfassen, was am jeweiligen Bild am meisten ins Auge springt, darin sind sie fast wie Karikaturen. Die Bilder hatte ich ursprünglich für mich selbst gesammelt, weil ich auf der Suche nach wiederkehrenden formalen Grundmustern war. Ich habe übrigens auch eine Postkartensammlung. Sie ist sortiert, ähnlich wie der von Ihnen aufgebaute Bildindex zur Politischen Ikonografie im Warburg-Haus in Hamburg. Ich ordne die Postkarten, beispielsweise nach stehenden Männern, stehenden Frauen, nackten stehenden Männern… Darunter sind viele Darstellungen von Jesus oder vom Heiligen Sebastian, aber es kann auch mal eine Werbung für Unterhosen aus den 1980er-Jahren dabei sein. Dann gibt es die sitzenden Frauen mit Kind: Madonnen, Isis, Kybele … Mich interessieren die Grundmuster oder Archetypen der Darstellung.

MW: So lässt es sich also mit Wölfflins Vorstellungen heute noch arbeiten! Das hätte ihn
gefreut, dass eine Künstlerin der Gegenwart die Alten Meister sich unmittelbar „aneignet“.
Wölfflins theoretische Ansichten sind ja von älteren Künstlern, etwa von Marées und Hildebrand, stark beeinflusst. Im Übrigen haben seine Fachgenossen die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe so gut wie ignoriert. Die erste große Rezension erschien erst nach dem Krieg – von einem Philosophen, Erich Rothacker. 1929 hat dann Walter Passarge fast sein ganzes Buch über Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart den theoretischen Widerlegungen von Wölfflins Grundbegriffen gewidmet. Meines Erachtens liest man das Buch mit größtem Gewinn, wenn man das Erscheinungsdatum 1915 im Auge behält.

 
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