Anke DOBERAUER 

Die Bildniskunst Anke Doberauers oder: die Liebe zur Malerei

Für Martin Warnke, dessen Überlegungen in dem Vortrag
Funktionen des höfischen Bildnisses in der Renaissance
die folgende Darstellung mitgeprägt haben.

 

I

Anke Doberauer hat für die neuen Rektorenbildnisse der Friedrich Schiller-Universität keine der gebräuchlichen Rahmenformen gewählt. In den Keilrahmen ist ein vorkragendes Stützelement so montiert, daß die Leinwände sieben Zentimeter vor der Wand schweben. Die Form der Hängung übernimmt die Rolle des Rahmens auf eine besondere und neue Weise. Denn um das Bild entstehen je nach den Lichtverhältnissen stärker oder schwächer ausgeprägte Schatten, die es umspielen und seine Ränder trotz ihrer ostentativen, durch die farbigen Malgründe hervorgerufenen Begrenzungen auflösen. Die scheinbare Verflüchtigung des Bildrandes kommt ebenso dadurch zustande, daß die Bildfarbigkeit in das Umfeld reflektiert wird.

Mit der Wechselwirkung von Bildfläche und Umgebung erwacht auch der Bildgegenstand zu eigenständigem Leben. Die Porträtierten wirken lebendiger, frischer, gegenwärtiger, so als wollten sie im Moment des Erblicktwerdens sagen: Hier bin ich, ein Anspruch, den schon Thomas Gainsborough seinen Bildnissen zueignen wollte. Die Gemalten sollten unmittelbar auf den Betrachter zutreten, so als verriete ihr Auftritt dem Zuschauer, freilich unausgesprochen: Here I am.

Die Anmutung wirkt zumindest bei den vier Magnifizenzen, die Anke Doberauer ad vivum gemalt hat, unmittelbar. Die Porträts der verstorbenen Rektoren dagegen gewinnen sie auf umgekehrtem Wege. Ihre Gegenwart stiften Knaben, in schräger Rückenansicht und verlorenem Profil dargestellt, welche aufgeschlagene Bücher oder Tafeln halten, auf denen die Gesichtszüge der Amtsträger nach Reproduktionen wiedergegeben sind. Während die vier jüngeren Rektoren neben den getragenen Amtsinsignien einen Gegenstand in den Händen halten, der ihr Lehr- und Forschungsgebiet repräsentiert, sind den älteren Hinweise auf ihre Profession gleichsam in oder neben die Reproduktion eingeschrieben. Nur als Kopfstücke und zugleich als Bild im Bilde gemalt, werden ihre Hände durch die der Jünglinge vertreten, welche auf ihr Bildnis blicken oder sinnend dargestellt sind. Daß die Knaben ihrer im Anblick gewärtig werden, verrät nicht nur ihre Haltung, sondern auch, daß ihnen die Amtsinsignien - Kette, Talar und Barett - angelegt sind. Trotz dieser die Buben kostümierenden Kleiderpracht bleibt ihr unverwechselbarer Habitus erhalten. Das Nackenhaar und die Ohren verraten verschiedene Individuen und lassen die von der Künstlerin mitgedachte unverwechselbare jugendliche Physiognomie erahnen. Die Reduktion der Gesichter in diesen vier Bildnissen auf ein Minimum, das verlorene Profil bei den Jugendlichen und die graphische Wiedergabe der Magnifizenzen, erhöht paradoxerweise die Gegenwärtigkeit der Porträtierten, da ihr Blick nicht nachahmend erfaßt wird, sondern als innerbildliche Wechselbeziehung konstruiert ist. Im Schauen der Knaben werden die Rektoren ansichtig.

Das Schema dieser vier Doppelbildnisse hat Anke Doberauer Renaissanceporträts entlehnt, welche die dargestellte Person mit einem Gegenstand als Attribut in den Händen zeigen. Doch wendet sich hier, wie etwa im Bildnis eines jungen Mannes von Andrea del Sarto in der Londoner National Gallery, der Blick bildauswärts. Der Dargestellte hält im Studium des gehaltenen Buches inne und schaut, noch in Gedanken an das Gelesene versunken, auf den Betrachter. Diese ereignishafte Unmittelbarkeit wandelt Anke Doberauer ab. Sie überläßt sie dem innerbildlichen Dialog, welcher nicht unmittelbar anschaulich dargestellt ist, sondern sich über Komposition und Farbklang entwickelt.

Auch die Gemälde der vier ad vivum entstandenen Rektoren enthalten Anspielungen auf Bildnisse des 16. Jahrhunderts, von denen die Haltung der Hände unmittelbar an der Unterkante des Bildes entlehnt ist, wo nicht selten eine Balustrade begegnet. Sie hat eine Distanz schaffende Funktion, die zugleich wiederum die Unmittelbarkeit des Blicks eines Porträtierten steigert. Anke Doberauer versetzt ihre Rektoren in einen offenen Raum, der die rein bildliche Wirkung der Gemälde steigert. Zwar hat sie für diese Teilserie ebenfalls Bildnisse, insbesondere des 17. Jahrhunderts, in der Jenaer Porträtreihe befragt und hält sich im übrigen auch streng an die äußeren Daten der Serie, etwa im Bildnisformat, welches sie mit 25 Figure, dem klassischen französischen Maß, festgelegt hat, aber sie verfolgt die Sujets unter anderen Normen der bildlichen Übersetzbarkeit.

Die Verwandtschaft mit Bildnissen der Renaissance und des Barock besteht zunächst darin, daß die Malerin in den Gesichtslandschaften alle Züge einer unverwechselbaren Physiognomie entfaltet. Allerdings werden die künstlerischen Mittel nicht im Dienste einer wissenschaftlichen Präzision verschluckt, sondern sie sind bildkonstitutiv, ja die farbige Struktur überblendet geradezu die personalen Identitätsmerkmale. Einerseits ist das Gesicht als Ergebnis einer innengeleiteten, endogenen Persönlichkeitsform erfaßt, andererseits wird es durch die Malweise als Ergebnis außengeleiteter, exogener Vorgegebenheiten interpretiert, welche motivisch auch durch die Amtsattribute benannt werden. So verschmelzen, bedingt durch das bewußte Wechselspiel der Künstlerin mit den Zügen der unverwechselbaren Physiognomie, den Attributen und den bildnerischen Mitteln, Merkmale des Individualgesichts und des Zeitgesichts. Das Bildnis ist so nicht allein, wie es John Pope-Hennessy formulierte, die gemalte Darstellung eines Individuums in der ihm eigenen Erscheinung, sondern zugleich, wie es Percy Ernst Schramm vorschlug, das Bild eines Menschen, das eine bestimmte Persönlichkeit wiedergeben soll.

Bei den Jenaer Bildnissen Anke Doberauers handelt es sich um die Darstellung von Magnifizenzen aus der Zeit zwischen 1939 und 1997. Die Künstlerin war sich bei der Arbeit an ihrem Auftrag bewußt, daß es um mehr gehe als um die Wiedergabe eines einzelnen. In einem Interview erläuterte sie: Die Rektoren sind ja nun nicht unbedingt alle herausragende Persönlichkeiten. Das wissen sie auch selbst ganz genau. Sie gehen nur als Amtsinhaber in die Geschichte ein. Es ging auch nicht darum, ein Wunder von Genie zu malen... Den Auftrag habe ich auch angenommen, weil er letztlich deutsche Geschichte widerspiegelt. Folglich war sie bemüht, Porträts zu schaffen, die zwischen der Darstellung des Individualgesichtes wie des Zeitgesichtes oszillieren. Rein äußerlich verschafften ihr die Amtsattribute der Magnifizenzen Erleichterung bei ihrer Aufgabe. Doch sind für den bildnerischen Gehalt darüber hinaus grundlegende Merkmale erkennbar, welche verdeutlichen, daß das Bild eines Menschen immer etwas anderes ist, als dieser Mensch selbst; daß die Intention eines Bildnisses auf Ähnlichkeit und Individualität gerichtet sein kann, daß es aber auch eine Bildnisintention geben kann, welche an der Persönlichkeit vornehmlich interessiert, was aus ihr gemacht, was von ihr gedacht oder gefordert werden kann.

Um dieser komplexen Anforderung an das Porträt gerecht zu werden, bedarf es nicht notwendig der Metaphorik. Sie läßt sich auch in der Beschreibung aufheben, in der Darstellung dessen, was zu sehen ist. Denn in die Oberfläche einer Gesichtslandschaft gravieren sich die Züge der Zeit, der Aufgaben und Pflichten und die individuellen Reaktionsweisen, geprägt von Bewußtsein und Verantwortung, welche durch Haltung und Gesichtsausdruck erfaßbar sind. Um beide Ebenen zu verschmelzen, bedient sich Anke Doberauer eines Kunstgriffs. Wenn sie einen sitter malt, hinterlegt sie seinen Kopf mit einem monochromen Farbträger - sei es Papier oder Tuch - und ergänzt ihn seitlich des Gesichts um einen zweiten. Es versteht sich, daß dieser zweite Farbträger nicht den Lichteinfall behindert. Im Gegenteil, er dient dazu, das einfallende Licht, farbig gebrochen zu reflektieren und so eine Tönung zu bewirken, wie sie auch der Hintergrund auslöst. So erhält das Gesicht eine Einfärbung, die der Peinture zugute kommen kann, aber den Ausdruck der Züge nicht beeinträchtigt. Nur gehorchen sie jetzt einem subtilen Spiel der Farbtöne und Farbwerte. Sie sind gleichsam gefiltert. Die Farbe des Malgrundes, die sich wie ein Schleier über alle Bildelemente legt, vertritt die exogenen Vorgegebenheiten. Sie nuanciert die Farbwerte des Inkarnats und der Sinnesorgane, aber auch der Attribute. Sie färbt das Gold der Amtskette je nach Farbwahl rötlicher oder bläulicher oder goldener. Sie erlaubt matten oder strahlenden Glanz, Lichtfarbigkeit oder Buntfarbigkeit, so daß die Lesbarkeit des Bildes mehrschichtig wird, ohne daß sich dies in das Bild einbezogener versteckter Bedeutungen verdankte. Die Farbfilter Anke Doberauers können als die eigentlich prägende Kraft ihrer Bildnisse bezeichnet werden. Sie verändern am Gesehenen nichts, aber sie geben ihm eine maßstäbliche Dimension, die man dissimulatio nennen kann.

II

Dissimulatio, so erläuert Heinrich Klotz den von Martin Warnke verwendeten humanistischen Begriff, sei die versteckte Beunruhigung, die es vermag, die Wahrheit unter der Oberfläche der simulatio und des Scheins verhüllt, aber nicht verborgen anzusprechen und damit die künstlerische Freiheit dort in Anschlag zu bringen, wo ein bildnerisches Programm vorgegeben ist, wie dies bei einer über einen langen Zeitraum entstandenen Bildnisreihe der Fall ist. Das Kunstwerk wird so zum Ausgleichsprodukt zwischen Brauch, präsentatio, und Einzelfall, interpretatio. Der Künstler kann daher rascher zu Werke gehen als der Historiker, der sich erst durch das Aktenstudium Einsicht verschaffen muß. Das visuelle Gedächtnis, der Fundus der Bilder, verschafft einem Maler die Möglichkeit, sich Vergleiche zu wählen, historische Haltungen, Gesten und mimisches Gebaren in Anschlag zu bringen und die Rhetorik zu befragen, die in extenso seit den Römern das Ausdrucksverhalten fixiert und überliefert hat. Im Vergleich der Auftrittsweisen schärft sich der Blick des Künstlers für die Darstellung und garantiert ihm die Möglichkeit zur Distanzwahrung vor der Gegenwärtigkeit des Gegenüber. Der Maler kann sich auf diesem Weg dessen Individualität wie dessen Rolle versichern, von beiden Besitz ergreifen und sich ihrer bemächtigen. Dann hat er freie Hand.

Allerdings stehen ihm am Ende dieses Jahrhunderts jene historischen Pathosformeln der Rhetorik nicht mehr ungebrochen zu Gebote, die die bildende Kunst zunächst selbst einer Revision unterzogen hat. Seit Paul Cézanne und dessen Postulat vom Ende der Eintracht zwischen Textlichkeit und Bildlichkeit ist der Künstler vollends darauf angewiesen, bildnerisch zu denken. Da hilft ihm die eingeübte, überlieferte Gestik und Mimik nicht. Historische Formeln haben nicht per se eine die Bildautonomie unterstützende Überzeugungskraft. Sie müssen in Anbetracht ihrer Verwertung durch die Jahrhunderte und ihrer Entwertung in den Diktaturen dieses Jahrhunderts neu anverwandelt werden. Dies gelingt dem Künstler allein mit Hilfe der Berücksichtigung der Gesetzmäßigkeit des Kunstwerks, seiner inneren Logik, die sich aus rein formalen Quellen speist. Sie werden zur sinngebenden Substanz des Bildes.

Paul Hervé Parsy beobachtet an Anke Doberauers Bildnissen, daß die Darstellung ihrer Gestalten vollends von der Malerei durchdrungen sei. Damit umschreibt er die eigentliche Leistung der Künstlerin. Sie macht nichts mehr und nichts weniger zum Gradmesser der Verbildlichung eines Menschen als seine bildgemäße, bildgerechte Wiedergabe. Sie fügt dem ad vivum gemalten nichts hinzu, was nicht sichtbar ist. Oder anders gesagt, sie beläßt ihn so, wie er vor ihr erscheint. Ihre Freiheit besteht darin, die Lichtverhältnisse zu nutzen, die Farbnuancen festzulegen, die Peinture auszukosten, den Umraum festzulegen oder offenzulassen.

Anke Doberauer ist zusehends dazu übergegangen, das Bildfeld undefiniert zu lassen. Spielte in ihren Bildern bis 1986 eine Art schmalen Bühnenraums mit einer Wand dahinter eine zentrale Rolle, weil er das Theatralische, die Künstlichkeit betonte und verdeutlichte, daß das Bild nicht die Realität wiedergibt, so verzichtete sie in der Folgezeit darauf und ersetzte ihn durch monochrome Hintergründe in starken Farben. Sie führen noch strenger von der vermeintlich abbildhaften, in Wahrheit jedoch nie abbildbaren gesehenen Wirklichkeit fort. In der Jenaer Bildnisreihe schaffen die abgestuften Hintergrundfarben Braun-Schwarz, Schwarz-Rot, Rot, Rot-Gelb und Gelb keinen Raum, sondern verdeutlichen die Sequenz, die Abfolge, und führen die Zeitlichkeit ein, die sowohl als historische als auch als aktuelle Größe verstanden werden muß. So erhält die Reihe einen geschlossenen Charakter, obgleich sie nicht alle Rektoren seit 1939 erfaßt.

Unter den beschriebenen Prämissen entsteht ein offenes Porträt, wie es die Kunst seit den Versuchen von Paul Cézanne, Pablo Picasso und Alberto Giacometti kennt. Der Dargestellte wirkt anwesend, doch das Umfeld, welches ihn umgibt, ist künstlich, obwohl es während des Malvorgangs in dieser Form existierte. Bei genauerem Hinweisen erweisen sich die Details des Gesichts als Konstrukt. Sie unterliegen einem von der Malerin vorgegebenen Farbschema, schaffen eine Atmosphäre, die das Gesicht umweht. Es ist nun nicht mehr es selbst, sondern ein vollkommen bildnerisches. In diesem Spannungsverhältnis zwischen wahrnehmbarer Ähnlichkeit des Gesichts und umräumlicher Irrealität offenbart sich die Gegenwärtigkeit eines Anblicks. Es ist ein gefilterter Blick, durch den der Dargestellte überhaupt nur blicken kann. Die direkte Darstellung der Schau aus dem Bilde, so wußte es schon Alberto Giacometti, wird nicht durch die Nachbildung der Augen möglich, sondern nur durch die Erfassung des Blicks. Die ständige Bewegung der Augen und der rasche Wechsel des Gesichtsausdrucks lassen sich nicht statisch fassen. Obwohl dem Künstler im Gemälde nur die Fixierung möglich ist, muß er sie so weitgehend wie möglich aufheben, bedarf die Beweglichkeit des Gesichts einer Übersetzung, die die Formen instantan wirken läßt. Deshalb verwendet Anke Doberauer in Gemälden keine Konturen, keine aktiven Linien. Die Malerei mit lasierenden Farben und die leichte Pinselführung schaffen ein lose geschichtetes, transparentes Kontinuum, welches das Bildgefüge beweglich erscheinen läßt.

Starr gestaltet, ist ein Gesicht schwer zu ertragen, wie es die auf diese Statik hin angelegten, historischen Porträts belegen. Aber seit das Bildnis einen individuellen Menschen einfängt, das heißt ihn in seiner Wechselbeziehung zwischen Bindung und Eigenverantwortung skizziert, gilt diese Darstellungsweise als unangemessen. Jean-Paul Sartres literarische Figur des Antoine Roquentin in dem Roman La Nausée konnte die historischen Porträts des Museums von Bouville nur aus dem Grunde ertragen, weil sie seinen Blicken den vom Menschen neugedachten Menschen, mit der herrlichsten Eroberung des Menschen als einzigem Schmuck: dem Bukett der Menschen- und Bürgerrechte darboten und in ihrem Blick, dem Adel der Gesichter, weil er die Welt auf Distanz hält und die Dinge wahrnimmt, wo sie sind , der Sinn eines Gesichts, die ‘sichtbare’ Transzendenz zu sein, aufleuchtet. Der gemalte Diktator oder sein Stellvertreter im 20. Jahrhundert, welchen Rang auch immer er einnahm, verspricht nichts. Seinen Blick beherrscht eine starre, unerbittliche Härte, wie sie die Bildniskunst seit der frühen Neuzeit nur selten kennt. Selbst das monumentale Staatsporträt Ludwigs XIV. von Antoine Rigaud aus dem Jahre 1701 kann noch als Versprechen der Macht verstanden werden. Mit dem Blick aus dem Bilde wurde seit dem frühen 15. Jahrhundert nicht mehr nur ein Anspruch angemeldet, sondern auch eine Forderung ernst genommen, zumindest einer Erwartungshaltung entsprochen und Dialogfähigkeit angezeigt, der sich der Diktator und seine Vasallen per se widersetzen.

III

Gerade auf dieses starre Porträt im 20. Jahrhundert reagierte die Avantgarde. Es ging ihr weniger um ein human gezeichnetes Gegenbild als um den Ausdruck der Humanität selbst, welcher nur im offenen, dialogfähigen Bild zu erreichen war. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges verzichteten Künstler wie Wols, Jackson Pollock und Jean Fautrier ganz auf das Sujet, um das Gemälde selbst blickhaft werden zu lassen. Sie wollten den Betrachter auf die Grunderfahrung seines Sehens selbst hinweisen und ihm bedeuten, daß es keine ohne Folgen bleibende Sinneswahrnehmung ist, sondern in einer Gesellschaft von Gesichtern die eigentümlichste Kraft besitzt, weil die Augen in ihrer Unmittelbarkeit zugleich aufnehmen und projizieren, wie Wols in Anlehnung an Paul Klee feststellte. Mit ihrem grundlegenden Experiment hat die informelle Malerei, die sich selbst verordnete, die Bildsujets - so wiederum Wols - in den zweiten Rang zu rücken, und damit eine kathartische Wirkung beabsichtigte, die erneute Einführung des Bildgegenstandes ermöglicht.

Anke Doberauer ist sich sehr wohl dieser Vorgeschichte ihrer Malerei bewußt. Ihre Peinture ist genauer besehen informell. Den Pinselstrich prägt ein persönlicher Duktus, doch er ist nicht von metaphorischer Bedeutung. Er ist bildgerecht oder, anders gesagt, die malerische Übersetzung dessen, was die Künstlerin sieht. Durch ihn formt sich nach und nach der Bildgegenstand, der unter anderem auch die Züge des Porträtierten annimmt, so daß das Bild, wie Anke Doberauer sagt, wenn alles gut geht, der Schnittpunkt zwischen meinem Blick und seinem Selbstbildnis sein kann. Was Jacob Burckhardt an Tizians Bildniskunst bemerkt, mag auch auf Anke Doberauers Porträts übertragen werden, nämlich daß sie den Menschen diejenige Harmonie des Daseins anfühlt, welche ihnen nach Anlage ihres Wesens sein sollte oder noch getrübt und unkenntlich in ihnen lebt. Denn warum sollte nicht jedes Bild eines Dargestellten einen Hauch höheren Lebens, der ihm eigen ist und mit seinem Ideal zusammenhängt, haben? Nur so bestand und besteht eine Möglichkeit, die Erinnerung daran wachzuhalten, daß das Subjekt eine Überlebenschance haben könnte, wenn es objektive Formen findet, in denen es sich verwirklichen kann.

Franz-Joachim Verspohl

 
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